Wozu eigentlich die Reiss-Führungsdiagnostik?
Bestimmt kennst du einige diagnostischen Verfahren, vielleicht hast du auch selbst schon welche durchlaufen, aber was bringen sie und welchen Platz haben sie eigentlich im Coaching?
Ich habe mit einer Kundin im Führungskräftecoaching gerade mit dem Reiss Motivation Profile® gearbeitet, mit spannenden Erkenntnissen, die ihren Teamkonflikt tatsächlich auflösen konnten.
Inhalt
Der Frust im Team spitzt sich zu
Meine Kundin hat vor einigen Monaten ein Team übernommen, in dem es inzwischen deutlich knirscht.
Sie möchte ihr Team weiterentwickeln, sieht aber aktuell nicht das Potenzial dazu und beklagt sich über das mangelnde Engagement der Mitarbeiter.
Ihre Mitarbeiter wiederum fühlen sich mitunter orientierungslos und vermissen echte Führung.
Konfliktlösung durch Führungsdiagnostik?
Im Rahmen ihrer neuen Führungsverantwortung hat meine Kundin bereits ihr Reiss-Profil erstellt und mit ins Coaching gebracht. Das liefert uns jetzt eine gute Basis, um das Problem bei der Wurzel zu packen.
Die Reiss-Diagnostik als Instrument zur Führungskräfteentwicklung
Die Reiss-Diagnostik geht auf den amerikanischen Professor Steven Reiss zurück und misst 16 Lebensmotive, die uns alle in unterschiedlicher Intensität antreiben. Unsere Lebensmotive müssen befriedigt sein, damit wir unser Leben als sinnvoll empfinden. Sie sind das Ergebnis unserer Gene und Erfahrungen und sind weitestgehend stabil über unsere Lebensphasen. Jedoch verändert sich die Art und Weise, wie wir unsere Lebensmotive ausleben, denn je älter wir werden, ein desto größeres Verhaltensrepertoire steht uns auch zur Verfügung. Das macht den Einsatz gerade in der Persönlichkeitsentwicklung und in der Führungskräfteentwicklung im Besonderen interessant.
Für mich besteht das spannende an der Reiss-Diagnostik darin, dass sie die eigenen Antworten ins Verhältnis zu tausenden von anderen Menschen setzt, die an den wissenschaftlichen Studien teilgenommen haben. Das persönliche Profil ist also immer in Relation zu anderen zu verstehen.
Das Profil der persönlichen Lebensmotive kann uns helfen zu verstehen: Warum bin ich so wie ich bin? Warum reagiere ich in manchen Situationen so? Das ist natürlich nicht nur für Führungskräfte spannend zu erkennen und daher auch keine reine Führungsdiagnostik. Was das Reiss-Profil aber in der Führungskräfteentwicklung so interessant macht, sind aus meiner Sicht zwei Gründe:
- Führungskräften kommt eine besondere Bedeutung in der Motivation ihrer Mitarbeiter zu und nur wenn ich weiß, was meine Mitarbeiter oder Kollegen innerlich motiviert, schaffe ich es auch, sie durch externe Anreize zu motivieren.
- Aus der Kombination bestimmter Lebensmotive ergibt sich ein bestimmtes Führungsmuster, eine Typologie. Im Fall meiner Kundin sind bspw. die Lebensmotive Macht und Unabhängigkeit sehr aufschlussreich.
Macht im ausgeprägten Sinne bedeutet: Ich trage gerne die Verantwortung und führe ein Team an, bin eigeninitiativ und leistungsorientiert. In geringer Ausprägung stehe ich lieber in zweiter Reihe, bin geduldig und lege unter Umständen mehr Wert auf eine gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit als meine Vergleichsgruppe.
Das Motiv Unabhängigkeit in starker Ausprägung äußert sich z.B. in einem hohen Bedürfnis nach Autonomie und eigenständiger, selbstverantwortlicher Arbeit. Während eine geringe Ausprägung für eine hohe Teamorientierung spricht. Menschen mit dieser Ausprägung möchten sich emotional mit anderen verbunden fühlen und legen Wert auf Gemeinsamkeiten.
Lege ich diese zwei Dimensionen, Macht und Unabhängigkeit, auf jeweils eine Achse übereinander, ergeben sich anhand der individuellen Ausprägung pro Dimension, unterschiedliche Führungstypen.
Meine Kundin bspw. hat ein sehr gering ausgeprägtes Machtmotiv bei einem eher hoch ausgeprägten Unabhängigkeitsmotiv. In der Führungstypologie sprechen wir da von einer moderierenden Führungskraft. Das bedeutet, meine Kundin ist nicht der klassische Front Runner, der das Team unbedingt anführen will. Sie kann sich auch zurücknehmen und Fakten für sich sprechen lassen. Gleichzeitig schätzt sie es, allein arbeiten zu können und in ihren Entscheidungen autonom zu sein. Sie begreift sich eher als Coach, die den Mitarbeitern bei Bedarf zur Seite steht.
Jeder Führungstyp hat seine eigenen Konflikte
Diese Grundmotivation trifft nun auf ein Team, das es gewohnt ist, klare Ansagen zu bekommen. Der frühere Chef hat wohl nicht viel Wert auf Eigeninitiative gelegt, ihm war es wichtig, überall eingebunden zu sein und am Ende die Entscheidung zu treffen. Die Mitarbeiter fühlen sich mit dem Führungswechsel also überfordert, da ihre neue Chefin plötzlich Eigeninitiative einfordert. Sie möchte Mitarbeiterpotenziale entfalten, indem sie ihre Leute auch einfach mal machen lässt und sich eher als Coach begreift.
Spannend, oder?
Lösungen für die neue Führungspraxis
Diese Erkenntnis hat uns einen ersten Durchbruch im Coaching verschafft und den Weg geebnet, eine neue Strategie für ihre Führungspraxis zu erarbeiten. Zwar kann meine Kundin ihre Motive nicht einfach über Bord werfen, die sind, wie sie sind. Aber sie lernt nun, anders damit umzugehen. Denn sie versteht jetzt ihre eigene Motivlage besser und sieht auch klarer, was ihr Team braucht. So können sie zumindest offen miteinander sprechen. Gerade jetzt zu Anfang ist es wichtig, dass sie sich ihrem Team zuwendet, um die einzelnen Fähigkeiten und Motivatoren ihrer Mitarbeiter zu verstehen. So finden sie aktuell gemeinsam Aufgaben und Projekte, die jeder übernehmen kann und sie einigen sich auf einen Arbeitsmodus, der den Mitarbeitern mehr Orientierung gibt. Gleichzeitig schafft sie so die Grundlage dafür, ihre favorisierte coachende Rolle einnehmen zu können.
Was Führungsdiagnostik leisten kann
So bietet das Reiss-Profil, als ein mögliches Instrument der Führungsdiagnostik, eine Struktur, mit der wir die eigene Persönlichkeit besser einordnen können. Denn unsere Persönlichkeitsstruktur ist für uns selbst und auch für andere auf den ersten Blick nicht erkennbar und nur die wenigsten von uns tauchen tief genug ein, um sich selbst zu ergründen, geschweige denn andere Menschen. Daraus ergeben sich viele Missverständnisse und Konflikte. Denn sichtbar ist für uns erst einmal nur ein Problem, das sich z.B. aus dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Grundmotive ergibt. Erst wenn wir verstehen, was uns und was den anderen antreibt, können wir aufeinander zugehen und eine Lösung finden. Das ist der Beitrag, den dieses diagnostische Verfahren zur Konfliktlösung leisten kann.
Als Psychologin kenne ich natürlich auch die Schwachstellen jeder Diagnostik und wende sie daher nicht vorbehaltlos an. In der Praxis durchlaufen viele junge Führungskräfte ein Führungskräfteprogramm, in dem auch eine Persönlichkeitsdiagnostik zum Einsatz kommt. Die erste Frage, die ich mir dann stellen sollte, ist:
Was will ich damit überhaupt messen?
Die zweite Frage: Was mache ich daraus?
Diagnostik ist eben immer nur ein Einstieg in die Selbstreflexion, dafür aber sehr geeignet. Richtig wertvoll wird es dann, wenn ich, wie im Fall meiner Kundin, lerne, meine eigenen Lebensmotive nicht auf Kosten meiner Mitarbeiter auszuleben, sondern flexibler im Ausleben werde. Das erfordert (a) eine sehr gute Selbstkenntnis (was triggert mich gerade oder treibt mich an? Und (b) ein gutes Gespür für mein Gegenüber (was treibt meinen Mitarbeiter an? Was braucht es da gerade?). Gelingt es mir, diese beiden zu vereinen, dann bin ich auf dem besten Weg, richtig erfolgreich in meiner Führungsrolle zu sein. Denn schon Henry Ford hat gesagt
Das Geheimnis des Erfolgs besteht darin, den Standpunkt des anderen zu verstehen.